Einige Überlegungen zur "Poesie der Strafe" siehe ganz unten auf dieser Seite.

Some reflections on the "poetry of punishment" can be found at the bottom of this page.

Die Geschichte hat sich in Riedlingen in den 1960er Jahren zugetragen.

Kleine Erklärung zu den Kritzeleien: es gibt im Südwesten eine Backware namens "Seele", siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Seele_(Geb%C3%A4ck)

'Don't say gay', Series 'Poetry of punishment', H 22 x W 17cm, pencil and marker on paper, 2022

See also https://www.youtube.com/watch?v=yD3s47MT1JY

Meanwhile, the phrase "DON'T SAY GAY!" is also written on blackboard:

see https://youtu.be/fK_if_lNuUM

"Das kann nur von einem Verrückten geschrieben worden sein", A4-Blatt

Vermutlich gibt niemand gern zu, verrückt zu sein. Hier ist es aber doch geschehen. Verrückt könnte z.B. jemand sein, der an der Welt und ihrem miserablen Zustand verzweifelt. Das könnten schon einige sein.

 

"This can only have been written by a madman", A4 sheet.

Probably nobody likes to admit to being crazy. But here it has happened. Crazy could be, for example, someone who despairs of the world and its miserable state. That could be already some.

"Ich soll nicht immer fragen, ob man in Deutschland noch mein Fahrrad findet."

Die Traumatisierung des Jungen, dessen Fahrrad von deutschen Truppen im 2. Weltkrieg konfisziert wurde, ist verständlich. Sie wirkte leider sehr lange nach. So lange, dass sich sein Lehrer darüber aufregte, dass er nach Deutschland reisenden Landsleuten immer wieder die Bitte mitgab, doch in Deutschland nach seinem vermissten Fahrrad Ausschau zu halten.

Seine Hartnäckigkeit und die seiner Landsleute wurde zu einer Art geflügeltem Wort im Nachkriegsholland, führte aber leider auch zu dieser schulischen Strafaktion. Der Lehrer hätte doch besser seinen Schüler konkret unterstützen und in Deutschland nach seinem Fahrrad suchen können!

 

'I don't have to keep asking if they can find my bike in Germany.'

The traumatization of the boy whose bicycle was confiscated by German troops in WW II is understandable. Unfortunately, it had a long lasting effect. So long, that his teacher was upset that he still requested his fellow countrymen travelling to Germany of looking for his bike in Germany.

His tenacity and that of his compatriats became a kind of winged word in post-war Holland, but unfortunately it also led to this  school punishment. The teacher could have better supported his student in a concrete way and looked for his bike in Germany!

"Strafe muß sein", A5 Heft aufgeschlagen, 21 x 29cm

'Punishment must be', A5 booklet opened, 21 x 29cm

"Übung macht den Meister", A5 Heft aufgeschlagen, 21 x 29cm

'Practice makes perfect', A5 booklet opened, 21 x 29cm

"Ordnung ist das halbe Leben", A5 Heft aufgeschlagen, 21 x 29cm

'Order is half the life', A5 booklet opened, 21 x 29cm

"Wenn ich nur wäre wie mein Bruder", A4 Heft aufgeschlagen, 29 x 21cm

'If only I were like my brother', A4 booklet opened, 29 x 21cm

"Strafarbeit", 2013, zweifarbiger Siebdruck von HPH, 60 x 42cm, Auflage 50

'Writing Lines' (I am not allowed to talk Swabian), 2013, two colored silk screen by printer HPH, 23 ⅔ x 16½”, Edition of 50

Postkarte, 17,5 x 12 cm / Postcard, 17,5 x 12 cm

Das Verbot der eigenen "Muttersprache" ist ein schwerwiegenderer Eingriff in die eigene Identität, als man zunächst annimmt.

Dieses Sprachverbot, ausgesprochen von einem selbst schwäbisch sprechenden Lehrer, war Anfang der 1960er Jahre offensichtlich gut gemeint und lässt sich als Aufforderung, (ansatzweise) Hochdeutsch sprechen zu lernen, verstehen. Dies ist ja tatsächlich eine sinnvolle, ja notwendige Forderung eines Lehrers, nur eben völlig falsch und ohne Begründung vorgebracht. Konnotiert wurde der Dialektsprecher damals als bäuerlich, ländlich, derb und dümmlich.

Gegenwärtig hat sich diese Beurteilung diametral ins Gegenteil gewendet: Dialekt wird heute als Bereicherung und Erweiterung des Wortschatzes verstanden. Mithin lässt sich vieles nur mit der Spezialbegrifflichkeit des Dialekts ausdrücken.

 

The prohibition of one's own 'mother tongue' is a more serious encroachment on one's own identity than is initially assumed.

This language ban, pronounced by a teacher who speaks Swabian himself, was obviously well-intentioned in the early 1960s and can be understood as an invitation to learn to speak 'High German'. This is indeed a meaningful, even a necessary demand of a teacher, just articulated completely wrong and without justification. The dialect speaker was then connoted as peasant and rural, coarse and stupid.

At present, this assessment has turned diametrically into the opposite: Today, dialect is understood as enrichment and extension of the vocabulary. Therefore, much can only be expressed with the special terminology of the dialect.

aus: 'Der Spiegel', Nr. 17/18, 18.4.2020, S. 54 mit Dank an Frau Barbara Supp.

Mehr zu den Schwäbisch-Strafarbeiten siehe "Schwäbische Strafen".

"Sargnagel", Anfang der 1960iger Jahre, Schulheft (Doppelseite A5), 21 x 30cm

'Coffin Nail' (I'm my father's coffin nail.), early 1960s, exercise book, 21 x 30cm

"Mutter", Anfang der 1960er Jahre, Schulheft, links Innenseite Heftumschlag, 21 x 30cm

'Mother' (I'll bring my mother under the ground), beginning of the 1960s, exercise book, left: inside of cover, 21 x 30cm

"Schandfleck", A5-Seite mit Innenseite Heftumschlag links, 21 x 30cm

'Shame Blur' (I'm the shame spot of my family.), A5-page with inside cover left, 21 x 30cm

"C-a-f-f-e-e", etwa 1963, Notenheft, 15 x 21cm

'C-a-f-f-e-e',  approx. 1963, music notebook,15 x 21cm

"Ich soll keine Negermusik hören.", Mitte der 1960iger Jahre, rekonstruierte Strafarbeit, 2019, A4 (29 x 21 cm)

'I'm not supposed to listen to Negro music.', mid 1960s, reconstructed penal work, 2019 (29 x 21 cm)

 

Am 23.1.2020 erzählte Wilfried Kretschmann bei einer Rede in Ostfildern aus seiner Jugend, als der größere Bruder einen Plattenspieler (vom ersten Lehrgeld) mit nach Hause brachte und ein paar Singles von just Louis Armstrong dazu! Der Kommentar seines Vaters (sinngemäß): "Jetzt müssen wir die Negermusik auch im eigenen Wohnzimmer hören".

Für Kretschmann war dies immer eine "Musik der Freiheit" und eminent wichtig.

Er benutze das böse N-Wort mehrmals in seiner Rede an dieser Stelle, ich hab mich innerlich kaputtgelacht wegen meiner Strafarbeit, aber die Grünen im Publikum sind immer kleiner geworden auf ihren Sitzen...

 

On Jan 23, 2020 Wilfried Kretschmann (Prime Minister of Baden-Wuerttemberg) told about his youth during a speech in Ostfildern, when the older brother brought a record player home and a few singles by just Louis Armstrong. The comment of his father (in the same sense): "Now we have to listen to the negro music in our own living room as well".

For Kretschmann, this was always a "music of freedom" and eminently important.

"Strafarbeit für einen Blinden",1986, 30 x 21 cm

'Writing lines for a blind man' (You can't demand feelings.), 1986, 30 x 21 cm

"Ich soll keine Strafarbeit schreiben."

Ein Beispiel von gelebter Resilienz?

'I'm not supposed to write lines.'

An example of practiced resilience?

 

Könnte es sich bei Strafarbeiten im schulischen Rahmen um eine Art von Poesie des Schmerzes, der Qual, des Leidens handeln?

Der repetitive und minimalistische Charakter erinnert jedenfalls an eine verquere Form von Dichtkunst. Der Zwang zum Schreiben und der von außen autoritär vorgeschriebene Wortlaut weicht natürlich erheblich von dem ab, was man landläufig unter inspirierten, freien Schreiben eines Dichters versteht. Aber Inspiration kommt auch von außen...

Repetition ist hier Bestrafung, Sisyphos lässt grüßen. Sie bringt im schulischen Kontext auch Bimsen und Pauken, also stupides, weitgehend gedankenloses Einprägen in Erinnerung. Im Arbeitskontext ist Monotonie immer negativ besetzt und soll möglichst durch Maschinen verrichtet werden. Stellt man sich im Alltag jemand vor, der immer denselben Satz vor sich hinmurmelt, so liegt der Gedanke an Einweisung in eine "Klapsmühle" nicht fern. Dabei könnten psychische Erkrankungen wie Besessenheit oder Traumatisierung, vielleicht auch Gedächtnisverlust und der krampfhafte Versuch einer Rückerinnerung, möglicherweise Hypermnäsie zu Grunde liegen.

 

Der Wiederholung, nicht der Strafe sind aber zweifellos auch positive Aspekte abzugewinnen. "Übung macht den Meister" - was wären Musiker ohne übendes Wiederholen und Einprägen? Auch die Musik selbst ist in ihrer Struktur ohne Wiederholung gar nicht denkbar. Apropos Übung: wer würde gern von einem Arzt operiert, der keine Erfahrung hat, der die Operation erstmals ausführt? Professionalität ist auf Routine und Erfahrung angewiesen, und dies beruht auf Lernen durch Wiederholung. Auch in der Erziehung ist geduldige Wiederholung unentbehrlich, bis sich Werte und Regeln verfestigt haben. Das wiederholte Vorlesen, oft von Kindern gewünscht, erlaubt vertieftes Verstehen und Selbstvergewisserung. Die Wiederholung gleicht zuweilen auch einem inneren, analysierenden Monolog, einem Kōan, das es zu lösen oder zu verstehen gilt.

Die Wiederholung von Schlüsselworten, oft verbunden mir bestimmten Atemtechniken oder Tanzritualen, können in einen trancehaften, erweiterten Bewußtseinszustand versetzen, etwa im Sufismus. Wiederholung prägt auch tibetanische Gebetsmühlen, die der Konzentration und Zentrierung dienen. Das Rezitieren eines Mantras im Hinduismus und Buddhismus (etwa der heiligsten Silbe Om) dient dem Freisetzen mentaler und spiritueller Energien. Das Beten des Rosenkranzes entspricht einem ähnlichen rituellen Sprechakt, in dem religiöse Grundsätze durch unendlich wiederholte Litanei verfestigt und herbeigewünscht werden. Es mag an archaisches, magisches Denken erinnern, an Beschwörungsformeln, Aberglaube und Zauber (Herbeireden von Wünschen oder Abwehr von bösem Zauber).

Vermutlich spiegeln sich in allen diesen rituellen Wiederholungen die grundlegenden Zyklen unseres Lebens: Tag und Nacht, Geburt und Tod, Werden und Vergehen, Tages- und Jahreszeiten. 

Redundanz in der Technik dient der Absicherung lebenswichtiger Systeme. Vielleicht hat die Wiederholung ja auch auf dem Feld der Sprache und Psyche eine heilende, bewußtmachende, ja gar aufklärerische und lebensnotwendige Funktion?

 

Illis Strafarbeiten sind besonders unter dem Aspekt von Prägung und Traumatisierungen zu betrachten, die Kindheit und Jugend begleitet haben. Die Autorität einer elterlichen Aussage über das Kind wiegt schwer, vor allem krass negative wie in einem anderen Fall: "Du bist ein Versager", was sich zu einer "self fulfilling prophecy" oder zu einer lebenslangen, immer wieder sich selbst prüfenden Rückfrage entwickeln kann. Es werden darin Aspekte einer "Gehirnwäsche" sichtbar; denn den Aussagen über sich glaubt man schließlich selbst, was man gemeinhin mit Internalisierung bzw. Verinnerlichung bezeichnet. Unbewußte Strukturen der Verinnerlichung spielen beispielsweise auch im Kolonialismus eine wichtige Rolle: die Unterdrückten glauben schließlich selbst, dass sie wegen Dummheit und Minderwertigkeit ihr Schicksal verdient haben. Das knechtisches Bewußtsein schleicht und schleift sich unbemerkt ein.

 

Es gibt Sätze, die tiefe innere Verletzungen verursachen und das ganze Leben ohrwurmartig präsent bleiben und in der Echokammer der Erinnerung mal ferner, mal näher widerhallen. Fraglich ist, ob diese Dämonen der Kindheit und Jugend jemals besiegt werden können. Selbstaufgabe oder Rebellion sind mögliche Reaktionen. Vielleicht können künstlerische Öffnung, Erinnerung und Bewußtmachung bei der Selbstbefreiung helfen?

Could 'writing lines' at school be a kind of poetry of pain, torment, suffering?

In any case, the repetitive and minimalist character is reminiscent of a weird form of poetry. The compulsion to write and the externally authoritarian wording naturally deviate considerably from what is commonly understood by inspired, free writing by a poet. But inspiration also comes from outside...

Repetition here is punishment, Sisyphus is greeting. In a school context it also brings back to mind pumice and timpani, i.e. stupid, largely thoughtless imprinting. In the context of work, monotony is always negatively occupied and should be carried out as far as possible by machines. If one imagines someone in everyday life who always mumbles the same sentence, the thought of being introduced to a "loony bin" is not far away. This could be based on mental illnesses such as obsession or traumatisation, perhaps also memory loss and the convulsive attempt to recall, possibly hypermnesia.   

 

The repetition is to be won however undoubtedly also positive aspects. "Practice makes perfect" - what would musicians be without practicing repetition and memorization? The structure of music itself is also unthinkable without repetition. Apropos practice: who would like to be operated on by a doctor who has no experience and who is performing the operation for the first time? Professionalism depends on routine and experience, and this is based on learning through repetition. In education, patient repetition is indispensable. In education, too, patient repetition is indispensable until values and rules have been established. Repeated reading, often desired by children, allows for deeper understanding and self-assurance. The repetition sometimes resembles an inner, analytical monologue, a Kōan that needs to be solved or understood. repetition of terms, often associated with certain breathing techniques or dance rituals, can bring you into a trance-like state of enhanced consciousness, such as in Sufism. Repetition also characterizes Tibetan prayer wheels, which serve for concentration and centering. The recitation of a mantra in Hinduism and Buddhism (e.g. the sacred syllable Om) is intended to release mental and spiritual energies. The prayer of the rosary corresponds to a similar ritual act of speech in which religious principles are consolidated and desired by infinitely repeated litany. It may be reminiscent of archaic, magical thinking, of incantations, superstition and spell. Presumably all these ritual repetitions reflect the basic cycles of life, day and night, birth and death, becoming and passing, the times of day and seasons. 

Redundancy in technology serves to secure vital systems. Perhaps repetition has a healing, conscious, even enlightening and vital function in the field of the psyche?

 

Illis's 'written lines' have to be considered especially under the aspect of coinage and traumatizations that accompanied childhood and youth. The authority of a parental statement about the child weighs heavily, especially blatant negative ones as in another case: "You are a failure", which can develop into a "self-fulfilling prophecy" or a lifelong, constantly self-checking inquiry.  Aspects of "brainwashing" become visible; for the statements about oneself are ultimately believed by oneself, which is commonly referred to as internalization. Unconscious structures of internalization also play an important role in colonialism, for example: after all, the oppressed themselves believe that they deserve their fate because of stupidity and inferiority. The servant-like consciousness creeps and grinds in unconsciously.

There are sentences which cause deep inner injuries and which remain present throughout life. It is questionable whether these demons of childhood and youth can ever be defeated. Self-abandonment or rebellion are possible reactions.

Perhaps artistic opening, remembrance and awareness can help in self-liberation?