Maria fehlt (work in progress)

 

Am 22.4.2020 habe ich auf einer Fahrradfahrt auf der "Skulptoura", einem Skulpturenweg von der Hölderlinstadt Nürtingen zur Keplerstadt Weil der Stadt, eine Entdeckung gemacht, die mich sofort mehr als alles andere gefangen nahm: ein wunderbares Naturensemble von alten, ehrwürdigen Bäumen auf einer abschüssigen Weide, in das kleine Würmtal hinabführend, dahinter eine Anhöhe mit aus den Bäumen ragender Kirchturmspitze. Später auf der Rückfahrt stellte ich fest, die Kirchturmspitze gehört zu einer früheren, ursprünglich romanischen Wallfahrtskirche, geweiht u.a. „zur Ehre der seligen Jungfrau Maria“*, Teil eines Weilers mit einem im 2. Weltkrieg zerstörten Schloss, in dem ich noch nie war: Mauren. Die uralten Bäume, von denen zwei bereits tot sind, haben eine stattliche Eiche in ihrer Mitte, die noch vital ist, jedoch eine fürchterliche Wunde aufweist. Im unteren Stammbereich ist wohl vom Sturm der unterste, gewaltige Ast abgerissen. Die Baumwunde hat oben den Umriß eines Halbkreises und vertieft sich dann konkav in den Kern des Stammes. Unterhalb des halbkreisförmigen „Gewölbes“ wird die Form der Baumwunde senkrecht, die Seiten verlaufen nahezu parallel nach unten, der Hohlraum wird flacher. Die mächtigen Wunde ist zu einer unperfekten, aber natürlichen Nischenform geworden, die man aus Wandgestaltungen aus der Antike kennt: darin eine klassische Figur, mehr oder weniger komplett erhalten, der die architektonische Nischenform eine wunderbare Plastizität verleiht. Hier, im Falle dieser hölzernen, aufgrund höherer Gewalt entstandenen Naturnische, nur Leere - die Figur scheint herausgefallen. Die Form der Wunde erinnert eindeutig an die katholische Bildsprache von Wegemadonnen oder Wegekreuzen.

Sofort war bei mir das Bild einer Madonna da, die in diese Naturnische, in diese Wundnische gehört. Das Bild einer schweren, unheilbaren Wunde dominiert, das Erlösende scheint fern.

Wir radeln weiter, an einem nicht enden wollenden Sägewerk vorbei, durch liebliche Auen, vorbei an anderen Skulpturen, das Bild der Wunde verlässt mich nicht mehr. In Aidlingen verliere ich, der ich zurückgefallen bin, den Anschluss an den rechten Weg, die Verbindung zur vorauseilenden Frau. Ich stelle fest, dass ich in dieser nachmittäglichen, blütenstaubigen Frühjahrshitze schon ziemlich erledigt bin, zumal ich noch an den Rückweg und das Vorhaben der Turmbesteigung zwecks Vorbereitung ein weißer Fahnenhissung zum 8. Mai 2020, dem 75. Jahrestag des Kriegsendes, an der Stiftskirche in Tübingen denke, siehe https://www.klaus-illi.de/weisse-flagge-zeigen-2020/friedensfeier-tuebingen-2020/

Auf diesem Weg bis zur Umkehr sind mir bereits die entscheidenden Assoziationen gekommen.

Zunächst fällt mir meine „Schwarze Madonna“ ein, eine frühe, aus zwei konträren Fundstücken zusammengesetzte Madonnenfigur, auf einem Arbeitsaufenthalt in der Küstengegend zwischen Valencia und Alicante im Frühjahr 1986 entstanden. Ein Bild, in dem beide Möglichkeiten des Menschseins, das Schönste und das Abgründigste, zusammengefügt war.

Dann die Lösung: Maria fehlt! Ihr Ort ist nun eine klaffende, unheilbare, leere Wunde. Es entwickelt sich das Bild der Abwesenheit, der Sehnsucht, des (Phantom-) Schmerzes. Die Figur muss geraubt worden sein. Nur etwas Winziges, Immaterielles ist geblieben, kaum wahrnehmbar aus der Distanz des Weidezaunes. Da ist etwas Glänzendes im oberen Teil der Baumwunde, ein goldener Glanz, ein schwaches Strahlen, ein schwebendes Relikt, nur dem aufmerksamen Betrachter ins Auge fallend. Man kann es als Nimbus verstehen, sei es ein Ring oder eine Scheibe. Die Meisten werden es übersehen. 

Das Bild ist für mich vollständig: Eine unverhoffte Reflexion, ein Lichtschein in einer gewaltsamen Wunde. Bescheiden, demütig, ehrfürchtig vor dem Schicksal und den letzten Fragen, unaufdringlich, in der Ferne. Man muss es entdecken, es drängt sich nicht auf, es ist temporär - die Wunde wird wohl das Ende des Baumes besiegeln.

Die Idee beseelt mich, trägt mich zurück zu dem Baum, der nicht allein ist. Ich prüfe mich: bin ich zu schnell zufrieden?

Nein, das Bild ist präsent, wenig Zweifel. 

 

* Siehe https://www.kirchebb.de/entdeckungen/kirchen-und-ihre-kunstwerke/ehn-mauren-ev-kirche

Siehe Fotos ganz unten - die Uhr am Kirchturm weist nur einen Zeiger auf!

 

Anfang März 2022:

Was ich nicht für möglich gehalten hätte, weil das alte Baumensemble unter Naturschutz steht: die Eigentümer von Grundstück und Bäumen, das Hofgut Mauren, würde einer entsprechenden Arbeit zustimmen!

 

Die Frage ist, an wen außer an Maria, die Mutter Jesu, die Mutter aller Mütter, würde diese Arbeit erinnern, wenn auf dem Titelschild am Zaun "Maria fehlt" steht?

An Maria 2.0? An alle Opfer, die fehlen und an alle um sie trauernden, weinenden Mütter - daran denkt man gerade jetzt, in Zeiten eines furchtbaren Krieges, der völlig unverhofft wieder in Europa tobt.

Ich denke natürlich auch an die jugendlich Maria, die in Freiburg i.B. 2016 auf so tragische Weise ums Leben kam, siehe https://www.klaus-illi.de/maria/

Wäre es denkbar, auch an sie im Kontext dieser Arbeit zu erinnern? Beispielsweise in Form eines Plexibriefkastens am Weidezaun, in dem sich Postkarten mit dem von Maria gemalten "Wilder Himmel"- Bildmotiv zum Mitnehmen befindet? Siehe Foto fast ganz unten. Es würde vergegenwärtigen und ein offenes Spannungsfeld zwischen der irdischen Baumwunde, die den Baum womöglich zerstört, und dem Himmel aufbauen, den sich Maria L. vorgestellt hat, bevor sie in die Hölle auf Erden geriet.

Das Ensemble der Eichen ist der Überrest eines Englischen Gartens von Heinrich Schickhardt, der nach dem Bau des Maurener Schlosses 1615-17 auch den Renaissancegarten des Schlosses gestaltet hatte. Die Eichen sind Naturdenkmäler.

Hinweisschild an der Wegecke: bei rotem Kreuz auf der abgezäunten Weide der betreffende Baum mit Wunde.

Folgende Fotos: vom Würmtal heraufkommend dieselbe Baumgruppe, die Wiese beweidet, im Oktober 2020.

16.3.2020: improvisierter Aufbau eines Scheiben-Modells aus Holz mit goldener Druckfarbe gewalzt, die nicht sehr glänzt und zu dunkel ist.

Die Nische zeigt Richtung Süd, um Licht möglichst gut einzufangen und zu reflektieren, könnte der "Heiligenschein" senkrecht stehen, wie hier im Versuch.

Evtl. könnte die endgültige Arbeit mit Blattgold belegt sein, das muss noch geprüft werden.

Nahblick von unten (wie es kein Passant haben kann) - der Baum befindet sich auf einer abgezäunten Kuhweide in Distanz zum Zaun. Mit einer helleren, glänzenden Goldfarbe könnte eine gewisse Fernwirkung erzielt werden. 

Geht man den Weg ins Würmtal hinunter Richtung Mauren, so sieht man die Nische links zusammen mit dem Kirchturm in Hintergrund und einer Würfel-Arbeit von Hans-Peter Schrader im Baum rechts.

Entfernung Zaun zur Baumwunde 10-15m.

So ähnlich könnte der "Briefkasten" mit der Postkarte "Wilder Himmel" von Maria L. zum Mitnehmen am Weidezaun angebracht werden. Darüber ein Hinweis auf die Arbeit in der Baumwunde. Für Nachschub sorgt der Betreuerservice der Skulptoura.

"Gnadenbild" aus der früheren Wallfahrtskirche von Mauren, es befindet sich im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart (© Landesmuseum Württemberg, Bildarchiv).

Das Marienbild fehlt also in Mauren auch wörtlich.

H. 108 cm, B. 43 cm, T. 28 cm, Weidenholz, Rückseite ausgehöhlt, 14. Jahrhundert

"Die senkrecht auf einer Thronbank sitzende Maria blickt nach vorn. Auf ihrem Schoss ist ein Sägeschnitt zu erkennen, der vermuten lässt, dass sich hier ursprünglich ein Jesuskind befand. Durch einen Vergleich mit weiteren Figuren aus dieser Zeit, kommt man zu dem Schluss, dass Maria in ihrer rechten Hand ein Attribut (vermutlich ein Zepter) hielt. Ihre aufwendige Kopfbedeckung ist ein mehrfach um Kopf und Schultern geführter krausengesäumter Schleier. Die gewellten Haare sind dennoch seitlich sichtbar. Die ursprüngliche Farbigkeit der Holzskulptur ist fast vollständig verloren."

Beschreibung des Landesmuseums. 

Vielleicht könnte auf dem Hinweisschild auf die Arbeit an einem Pfosten des Weidezaunes via QR-Code das "Magnificat" von Arvo Pärt abgerufen werden?

https://www.youtube.com/watch?v=b4NY3iXMBTc&ab_channel=AnthonyMondon

"Mit den Worten „Magnificat anima mea Dominum“ („Meine Seele preist den Herrn“) beginnt auf Lateinisch der Lobgesang Marias."...

"In der Darstellung des Lukasevangeliums (Lk 1,26–56 EU) besucht Maria wenige Tage nach der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel ihre Cousine Elisabet, die mit Johannes dem Täufer schwanger ist. Diese Begebenheit wird Mariä Heimsuchung genannt. Auf Elisabets prophetischen Willkommensgruß antwortet Maria mit einem Hymnus im Stil der Psalmen.[1] Das Magnifikat ist ein altes Marienlied. Dies ist 'angesichts der Reihe und Bedeutung alttestamentlicher Frauenlieder, welche die Tradition ... überliefert, nicht ungewöhnlich'.[2] Es schließt sich die Geburt Johannes des Täufers an. Der Hymnus lässt vielfache Anklänge an den Lobgesang der Hanna, der Mutter des Propheten Samuel, in 1 Sam 2 EU erkennen.

Maria preist auf Grund ihres Glaubens Gott als den, der sich ihr und allen Geringen, Machtlosen und Hungernden zuwendet, um sie aufzurichten, dagegen die Mächtigen, Reichen und Hochmütigen von ihren Thronen stürzt. Maria selbst 'gehörte zu den unteren Volksschichten, zu den Niedrigen und Einflußlosen, auch wenn sie mit einem Davididen verlobt war und vielleicht selbst aus dem königlichen Geschlecht stammte-'[3]...

"Das Magnificat ist nur im Evangelium nach Lukas enthalten, der sich von den Evangelisten am meisten für die Ausgegrenzten interessiert..."...

In der Einheitsübersetzung / Wikipedia:

 

"Meine Seele preist die Größe des Herrn,

und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.

Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.

Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig.

Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.

Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.

Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.

Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.

Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen,

das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig."

...

"Dietrich Bonhoeffer schreibt über das Magnificat: „Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie auf Bildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht … ein hartes, starkes, unerbittliches Lied von stürzenden Thronen und gedemütigten Herren dieser Welt, von Gottes Gewalt und von der Menschen Ohnmacht.“[9]"...

alle Zitate aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Magnificat

Ein Kuriosum der Kirchturmuhr an der Maurener Kirche: es gibt nur einen Zeiger!

"Eine Ein-Zeiger-Uhr ist eine Uhr mit nur einem Uhrzeiger, nämlich dem Stundenzeiger.

Die ersten meist als Turmuhren verwendeten Räderuhren waren aus technischen Gründen nur mit einem Stundenzeiger ausgerüstet. Uhren wie die Ein-Zeiger-Uhr, die auf inzwischen gewohnte Bestandteile wie etwa Sekundenzeiger, Minutenzeiger oder Ziffernblattelemente verzichten, werden auch als Minimaluhren bezeichnet. ... Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts war sie [die Stundenuhr] genau genug, um sie um den höher auflösenden Minutenzeiger zu ergänzen. ... In den 1990er Jahren kamen, vorwiegend als Armbanduhren, moderne Ein-Zeiger-Uhren auf. Pionier dieser Uhren ist der deutsche Industrie-Designer Klaus Botta. ... Das Ein-Zeiger-Design ist vom Aufbau der Sonnenuhr inspiriert und folgt der Überlegung, 'dem Diktat des Minutenzeigers die Idee der Entschleunigung' entgegenzusetzen."

Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Ein-Zeiger-Uhr

Die Maurener Kirche, Blick auf die Apsis bzw. den Chor.

Maurener Schloßruine (im 2. Weltkrieg zerstört) von Heinrich Schickhardt, erbaut 1615-17, mit zeitgenössischer Überbauung.

Schloss Mauren, Südseite, oben die beiden moderen Querriegel, rechts der Renaissancegarten am Hang hinunter ins Würmtal.

Schloss Mauren, Südseite, mit moderner Überbauung - vom südlichen Renaissancegarten aus.